Claire Keegan, Das dritte Licht, 2010, dt. 2013 (aus dem Englischen von Hans-Christian Leser) (beide Fassungen überarbeitet 2022 und 2023), Steidl, 95 Seiten.
Als die Autorin mit einem neueren Text größere Bekanntheit erlangt hat, wurde auch diese ältere Erzählung neu herausgebracht. Glücklicherweise!
An einem Sonntagmorgen, nach der Frühmesse in Clonegal, fährt mein Vater, statt mich nach Hause zu bringen, ins tiefste Wexford, zur Küste, wie die Leute meiner Mutter herkommen.
Dieser erste Satz leitet eine Beschreibung dieser Fahrt ein, während der die Erzählerin Überlegungen anstellt:
Ich frage mich, wie es wohl bei den Kinsellas zu Hause sein wird. Ich sehe eine hochgewachsene Frau vor mir, die sich über mich beugt und mich zwingt, kuhwarme Milch zu trinken. Ich sehe eine andere, weniger wahrscheinliche Version von ihr, eine Frau mit Schürze, die Pfannkuchenteig in eine Bratpfanne gießt und mich fragt, ob ich noch einen möchte, so wie es meine Mutter manchmal tut, wenn sie guter Laune ist.
Damit ist der Rahmen abgesteckt und der Ton gesetzt. Ein Mädchen wächst in einer armen Familie mit Problemen auf, zu viele Kinder – die nächste Niederkunft der Mutter steht kurz bevor – ein Vater, der spielt und trinkt, und wird zu Verwandten gebracht, damit diese es für eine Zeit aufnehmen.
Dort, bei einem kinderlosen Ehepaar, erfährt das Mädchen Zuwendung und erlebt eine strukturierte Welt – karg, aber herzlich. Es gibt Lösungen statt Strafen, wenn Probleme auftauchen, und eine spürbare Familiengemeinschaft. Die Außenwelt blickt neugierig auf die Welt der Kinsellas, begierig auf Klatsch und Tratsch.
Das Mädchen gewöhnt sich ein, wächst und verändert sich, was ihm auch bewußt wird. Während der Zeit, die es dort verbringt, aber vor allem auch, als es nach ein paar Monaten zu seiner Familie zurückkehrt.
Das schmale Buch spricht an, was für das Aufwachsen von Kindern wichtig ist. Es macht kein Aufheben, sondern bleibt ruhig und überzeugt mit einer sanften, mitunter poetischen Sprache. Einiges bleibt auch in der Schwebe, behält die für das Leben übliche Ambivalenz.
Mir hat die Erzählung von Claire Keegan sehr gut gefallen: Inhaltlich berührend, stilistisch ansprechend und im Gesamteindruck nachhallend. Ein Text, der zum wiederholten Lesen einlädt!