Hintergrund
Literaturarchive wie das Deutsche Literaturarchiv Marbach (DLA) befinden sich in einer herausfordernden Übergangsphase, in der sie sowohl mit der Bewahrung über Jahrhunderte gewachsener, analoger Hinterlassenschaften als auch mit der Integration eines stetig anwachsenden digitalen Materials betraut sind. Diese Doppelaufgabe erfordert eine kontinuierliche Anpassung bestehender Archivierungsprozesse, um den spezifischen Anforderungen beider Medienformen gerecht zu werden.

Das DLA in Schillers Geburtsort Marbach am Neckar besteht seit 1955. Es wurde ursprünglich als Schiller-Nationalmuseum gegründet (1941) und dann schrittweise erweitert. Heute ist es eines der bedeutendsten Archive für deutschsprachige Literatur weltweit, daneben bestehen im deutschsprachigen Raum weitere bedeutsame Literaturarchive:
Archiv der Akademie der Künste (Berlin)
Deutsches Exilarchiv 1933–1945 (Teil der Deutschen Nationalbibliothek, Frankfurt am Main)
Thomas-Mann-Archiv (ETH Zürich)
Literaturarchiv Salzburg / Literaturhaus Salzburg
Stefan-George-Archiv (Universität Stuttgart)
Die Marbacher Sammlungen der Deutschen Literatur von 1750 bis zur Gegenwart sind sehr umfangreich und umfassen Schrift- Ton- und Bildmedien sowie zunehmend digitale Medien. Dabei ist zu beachten, daß - im Unterschied zu Nachlässen des 18. und 19. Jahrhunderts, aber auch zu Exilarchiven des 20. Jahrhunderts - Bestände aus der Zeit nach 1945 häufig sehr umfangreich erhalten sind. Das DLA weist darauf hin, daß „allein die Erwerbung der Archive von Suhrkamp und Insel 2009 den Handschriftenbestand […] um etwa ein Drittel vergrößert“ habe.
Dementsprechend steht einerseits nach wie vor die Konservierung historischer, analoger Dokumente – wie handschriftlicher Manuskripte, gedruckter Bücher oder persönlicher Korrespondenzen – im Mittelpunkt der traditionellen Archivarbeit. Diese Archivalien sind oft einzigartig und repräsentieren nicht nur literarische, sondern auch kulturelle, historische und emotionale Werte. Ihre physische Beschaffenheit erfordert zum Teil aufwendige restauratorische Maßnahmen und konstant sichere Lagerbedingungen, um sie vor schädlichen Umwelteinflüssen, physischem Verfall und Verlust zu bewahren.
Andererseits wächst der Anteil digital erstellter Werke rasant. Autoren verfassen Notizen, Manuskripte und sogar ganze literarische Werke seit einigen Jahrzehnten vermehrt am Computer oder auf mobilen Endgeräten und nutzen eine Vielzahl von Softwareanwendungen und Cloud-Diensten. Der digitale Wandel stellt Archive daher vor zusätzliche Herausforderungen:
Technologische Vergänglichkeit: Digitale Formate und Softwareversionen können schnell obsolet werden. Archivare müssen sicherstellen, daß digitale Inhalte auch in Zukunft lesbar und interpretierbar bleiben, selbst wenn die ursprünglichen Programme nicht mehr verfügbar sind.
Authentizitätsprüfung und Integrität: Digitale Dokumente können einfacher verändert oder kopiert werden, weshalb es wichtig ist, den Urheberschaftsnachweis sowie Revisionshistorien zu dokumentieren, um die originale Schöpfung nachvollziehbar zu machen.
Vielfalt der Dateiformate: Die Nutzung unterschiedlicher Apps und Plattformen führt zu einer Vielzahl von Dateiformaten, was die Standardisierung und Vereinheitlichung zur langfristigen Archivierung erschwert. Hier sind Konversionsstrategien und die Erfassung technischer Metadaten von zentraler Bedeutung.
Dementsprechend ist festzuhalten, daß die Digitalisierung literarischer Hinterlassenschaften umfassende Strategien und innovative Methoden erfordert. Dabei geht es darum, sowohl die authentische Darstellung des kreativen Prozesses als auch die langfristige Nachnutzbarkeit der Inhalte zu gewährleisten. Durch den Einsatz moderner digitaler Repositorien, standardisierter Metadaten und kontinuierlicher technologischer Überwachung gelingt es Archiven, den Grat zwischen Tradition und Moderne zu meistern. So wird sichergestellt, daß literarisches Erbe – ob in analoger oder digitaler Form – dauerhaft erhalten und auch für zukünftige Generationen zugänglich gemacht wird.
Strategien und Handlungsansätze
1. Erfassung und Übernahme digitaler Originaldateien
Direkter Zugriff auf Originaldateien:
Archive bemühen sich vermehrt, die digitalen Urformate direkt vom Autor oder von dessen Nachlaßkuratoren zu erhalten. Dies kann bedeuten, daß unterschiedliche Dateitypen (z. B. Word-Dokumente, PDFs, Textdateien, Präsentationen oder sogar projektspezifische Formate aus spezialisierten Schreib-Apps) in ihrem Originalzustand übernommen werden.
Dokumentation des Kontextes:
Es ist nicht nur notwendig, die Datei selbst, sondern auch den technologischen Kontext (z. B. verwendete Software, Versionen, Betriebssysteme) zu dokumentieren. Diese Informationen helfen dabei, die digitale Authentizität zu sichern und mögliche Formatierungseigenheiten oder Software-spezifische Besonderheiten nachvollziehbar zu machen.
2. Standardisierung und Konversion in Archivformate
Formatmigration und Konversion:
Da Dateiformate im Laufe der Zeit veralten oder von modernen Systemen nicht mehr unterstützt werden könnten, wandeln Archive häufig die Originaldateien in standardisierte und langfristig lesbare Formate um. Beispiele hierfür sind PDF/A (für Dokumente), XML- oder Plain-Text-Versionen, die sich an international anerkannten Richtlinien orientieren.
Sicherung der Originaldateien:
Trotz der Konversion wird der Erhalt der Originaldateien oft beibehalten, um eine möglichst authentische Replikation des Schaffensprozesses zu gewährleisten. Diese duale Strategie (Konversion und Originalarchivierung) unterstützt auch spätere wissenschaftliche Analysen oder Rückkonvertierungen in andere Formate.
3. Umfassende Metadaten und Kontextualisierung
Erweiterte Metadatenstandards:
Um den vielschichtigen Entstehungsprozess digitaler Werke nachvollziehbar zu machen, setzen Archive auf detaillierte Metadaten. Dies umfaßt u. a.:
Angaben über den Entstehungszeitraum
Verwendete Software und Apps
Technische Daten (Dateiformat, Erstellungsdatum, Revisionen)
Kontextuelle Kommentare, die den kreativen Prozess illustrieren
Interdisziplinäre Zusammenarbeit:
Archivare arbeiten dabei eng mit IT-Spezialisten, Digital Humanities Experten und den Autorinnen und Autoren bzw. deren Erben zusammen. Dies soll sicherstellen, daß technische und inhaltliche Aspekte angemessen dokumentiert werden.
4. Langzeitarchivierung und digitale Preservation
Ständige technologische Überwachung:
Digitale Inhalte sind naturgemäß vom technischen Fortschritt betroffen. Um die Lesbarkeit und Nutzbarkeit auch in der Zukunft zu gewährleisten, betreiben Archive kontinuierliche Technologiemonitorings. So werden notwendige Formatmigrationen und Aktualisierungen des Speichersystems rechtzeitig vorgenommen.
Einsatz von digitalen Repositorien:
Moderne Archivsysteme bzw. digitale Repositorien spielen eine Schlüsselrolle. Sie ermöglichen eine strukturierte Ablage, versionierte Speicherung und den geschützten Zugriff auf digitale Werke. Dabei kommen häufig internationale Standards wie das OAIS (Open Archival Information System) zum Einsatz, um den Anforderungen der digitalen Langzeitarchivierung gerecht zu werden.
5. Umgang mit mehrfach genutzten Apps und unterschiedlichen Datenstrukturen
Integration heterogener Quellen:
Da Autoren häufig verschiedene Apps für unterschiedliche Aufgaben nutzen (zum Beispiel eine App für Notizen, eine andere für Manuskripte und eine separate für Recherche), müssen Archive in der Lage sein, Daten aus unterschiedlichsten Quellen zu integrieren. Dies erfordert:
Interoperabilität: Entwicklung von Schnittstellen und Datenimport-Routinen, die den Import diverser Datenformate erlauben.
Konsistenz und Vergleichbarkeit: Durch standardisierte Metadaten und Konversionsprozesse werden unterschiedliche Dateistrukturen in ein gemeinsames System überführt, das eine kohärente Archivierung ermöglicht.
Langfristige Zugänglichkeit:
Eine wesentliche Herausforderung besteht darin, auch in Zukunft auf verschiedene Dateiformate zugreifen zu können. Neben den technischen Maßnahmen fließen hier auch wissenschaftliche und rechtliche Überlegungen ein, um sicherzustellen, dass der gesamte digitale Entstehungsprozeß nachvollziehbar bleibt.
Fazit
Das DLA und andere Literaturarchive passen ihre Arbeitsweise wie dargestellt fortlaufend den modernen digitalen Produktionsweisen an. Mit einem Mix aus direkt erhobenen Originaldateien, standardisierten Konversionen, detaillierten Metadaten, interdisziplinären Kooperationen und einem robusten digitalen Repositorium versuchen sie, die zunehmend dezentral und multimedial erstellten literarischen Hinterlassenschaften zu bewahren und nachhaltig zugänglich zu machen. Diese Vorgehensweise soll gewährleisten, daß auch im digitalen Zeitalter literarische Kulturdenkmäler erhalten bleiben und in der Zukunft wissenschaftlich nutzbar sind.
Dafür sind hohe Personal- und Energieaufwendungen notwendig, ebenso eine neuartige und offene Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen. Weiter zunehmende internationale Kooperationen unterstützen die notwendige Prozesse.
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Schriftstellergenerationen in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts
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