Wolfgang Martynkewicz, 1920. Am Nullpunkt des Sinns, 2019, 382 Seiten.
Martynkewicz beginnt seine Zeitreise von vorn. Er ist sich natürlich dessen bewußt, was später geschehen ist, aber er interpretiert die Ereignisse nicht auf der Grundlage dieser späteren Ereignisse und unserer aus ihnen resultierenden Erkenntnisse. Dies gelingt ihm, indem er Zeitgenossen zu Wort kommen läßt und deren Äußerungen vorstellt.
Essays, Bücher und Filme, die im Jahr 1920 erschienen sind, bilden den Ausgangspunkt der Darstellung, die sich auf literarische Strömungen, politische Diskussionen, gesellschaftliche Fragen und auf die ihnen jeweils zugrundeliegende individuelle und kollektive Verunsicherung der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg beziehen.
Der Autor versammelt ganz unterschiedliche Stimmen und formt aus ihnen ein faszinierendes Mosaik, auf dem Tendenzen sichtbar werden, wie die Menschen mit der fundamentalen Umbruchssituation, die sie erleben, umzugehen versuchen.
Ich habe beim Lesen mir bekannte und bislang unbekannte Stimmen vernommen, viel entdeckt, gerade auch aus dem Bereich der Essays und Publizistik.
Martynkewicz’ Fokus liegt primär auf Deutschland, er präsentiert eine fast ausschließlich männliche Sicht auf die Dinge und reproduziert an manchen Stellen den Exotismus der Zeit. Dies wird nicht jedem gefallen, der das Buch liest. Es beeinträchtigt auch nicht die Qualität der Darstellung, es bedeutet aber eine Einengung der Perspektive und damit auch der Erkenntnis.
Das Buch beginnt mit einem Blick in Texte von Kurt Tucholsky, Stefan Zweig und Robert Musil, später kommen zu Wort: Alfred Döblin, Bert Brecht, Heinrich und Thomas Mann, Walter Serner, Ernst Jünger, Sigmund Freud und andere. Außer Hannah Höch und Elfriede Friedländer treten Frauen vorwiegend als Ehefrauen und Töchter berühmter Männer auf.
Der Autor beschränkt sich nicht auf einer Querschnittsbetrachtung des Jahres 1920, sondern greift auch in von diesem „Nullpunkt“ aus gesehen jüngere Vergangenheit und nähere Zukunft aus, um Entwicklungslinien aufzuzeigen oder zumindest anzudeuten. In der Summe bietet das Buch eine lohnende Lektüre, die Ausgangspunkt dafür ist, viele neue Texte zu entdecken.