Spazierengehen ist zuallererst Bewegung. Aber es ist auch mehr - was genau, hängt von mehreren Faktoren ab. Hier möchte ich als erstes die Umgebung und das Ziel eines Spaziergangs nennen.
Wo gehe ich spazieren, und wie wirkt sich das aus? Die Umgebung prägt uns und das, was wir tun. Ob wir im Wald spazierengehen oder über die Felder, ob im Stadtpark oder auf dem Boulevard einer Großstadt - das ist nicht dasselbe. Andere Geräusche und Gerüche, Temperatur und Wind, die Beschaffenheit des Bodens, die Kleidung, die wir tragen - all das macht einen Unterschied. Und natürlich kommt es auch darauf an, ob wir alleine unterwegs sind, zu zweit oder in einer Gruppe.
Lassen sich vor diesem Hintergrund überhaupt allgemeingültige Aussagen zum Spazierengehen treffen, mag man fragen. Lohnt sich das Nachdenken darüber überhaupt?
Nachdenken lohnt sich immer, auch über Themen wie dieses
Ich gehe gern spazieren. Nicht nur wenn und weil die Schrittzähler-App dezent daran erinnert. Sondern aus einem gewissen Bewegungsdrang heraus und auch, um - wie man so schön sagt - den Kopf freizubekommen.



Da ich in einer Großstadt lebe, stellt der Spaziergang über die Felder die Ausnahme dar. Ein veritabler Stadtwald ist immerhin vorhanden, durch die Notwendigkeit einer gewissen Anreise erlangt ein Spaziergang dort jedoch schon beinahe Ausflugscharakter.
Das veranlaßt mich zu der Überlegung, ob es nicht ein Charakteristikum eines Spaziergangs ist, ihn unmittelbar, ohne größere Vorbereitung und Anfahrt vornehmen zu können. Sich nach dem Essen „die Füße vertreten“, nach mehreren Stunden am Schreibtisch „den Kopf durchlüften“ - damit ist die Vorstellung verbunden, aufzustehen und loszugehen. Beschauliche Nebenstraßen im Viertel, eine Parkanlage, an einem Kanal entlang in der Stadt und auf dem Dorf bis zur Kirche und über die Felder zurück, durch das angrenzende Waldstück.
»O weh! Ein Palazzo,« sagte die Baronin und war auf dem Punkt, ihrer Mißstimmung einen Ausdruck zu geben. Aber ehe sie dazu kam, schob sich das Schiff schon an den vorgebauten Anlegesteg, über den hinweg man, einen Uferweg einschlagend, auf das Eierhäuschen zuschritt. Dieser Uferweg setzte sich, als man das Gartenlokal endlich erreicht hatte, jenseits desselben noch eine gute Strecke fort, und weil die wundervolle Frische dazu einlud, beschloß man, ehe man sich im Eierhäuschen selber niederließ, zuvor noch einen gemeinschaftlichen Spaziergang am Ufer hin zu machen. Immer weiter flußaufwärts.
Theodor Fontane, Der Stechlin, Vierzehntes Kapitel
Sofern vorhanden, kann ein Botanischer Garten eine Reise ersetzen und Pflanzen fremder Länder und Klimazonen präsentieren.
( Botanischer Garten in Lund, Schweden. Aufgenommen am 15.09.2024)
Ein zweites Charakteristikum wäre, daß die Spaziergängerin kein Ziel erreichen will, in der Regel kehrt sie zum Ausgangsort zurück. Es wird keine Veränderung des Aufenthaltes angestrebt, sondern des Bewußtseins. Das unterscheidet den Spaziergang von der Wanderung.
Der Spaziergänger kann sich auf die Umgebung konzentrieren, kann Blumen betrachten und Tiere beobachten oder - in einem städtischen Umfeld - Bauwerke betrachten sowie Verkehr und Menschen beobachten. Er kann aber auch all dem keine Beachtung schenken und in Gedanken versunken einherschreiten.
Franz Hessel ist ein Flaneur im Berlin der 1920er Jahre; hier ein Auszug aus seinem 1929 erschienenen Buch „Spazieren in Berlin“:
Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße.
Ob man also aktiv die Umgebung wahrnimmt oder mehr in sich versunken ist, ist eine Frage der Einstellung und der Intention, aber auch der Umgebung. Welche Geräusche gibt es, herrscht Stimmengewirr oder hört man die Vögel singen? Geht man allein oder zu zweit? Führt man ein romantisches Zwiegespräch oder eine philosophische Debatte?
Der Spaziergänger benötigt auch nicht zwingend eine Bank, um zu rasten - jedenfalls solange die körperlichen Kräfte noch mitspielen. Aber eine Bank vermag einem Spaziergang einen besonderen Akzent zu verleihen, der Aufenthalt dort gibt dem Innehalten, dem Nachdenken, dem Betrachten mehr Gewicht, weil der Spaziergänger nun gerade nicht mehr spaziert, sondern sitzt. Falls man ein Buch bei sich trägt, wäre jetzt der geeignete Zeitpunkt, es aufzuschlagen und ein paar Seiten zu lesen.
Allerdings zeigen Bänke, ob in Parks oder auf Straßen und Plätzen, daß die „Welt von Gestern“ vorüber ist: die Bank ist kein Refugium bürgerlicher Sicherheit mehr und ihr Zustand läßt oftmals zu wünschen übrig.
Nicht unwichtig ist auch das Wetter. Es darf für einen angenehmen Spaziergang weder zu heiß noch zu kalt oder zu naß sein. Das wohltemperierte Flanieren, das lässige Schlendern, das entspannte Gehen und dazu eine individuell als angenehm empfundene Umgebung können den Spaziergang zu einer positiven Erfahrung machen. Während die Beine ihren Dienst tun, kann der Geist schweifen, kann Gelesenes reflektieren, noch Unausgesprochenes und Ungeschriebenes durchdenken.
Kaum ein Spaziergang, bei dem sie nicht plötzlich vor einem toten Vogel oder einem ausgedörrten Igelkadaver stand […]
Barbara Pym, Quartett im Herbst, 1977, dt. 2021 (aus dem Englischen von Sabine Roth).
Für Leser wie für Autorinnen ist ein gelegentlicher oder gar regelmäßiger Spaziergang also zu empfehlen. Jede/r von uns sollte es zumindest ausprobieren und die Variante wählen, die am besten paßt.
Danke fürs Lesen!
Mehr über die Notizhefte:
Gestartet 2013 als Buchblog, inzwischen auf vielen Plattformen unterwegs. Hier sollen nicht Buchrezensionen oder -empfehlungen im Mittelpunkt stehen, auch wenn es sie geben wird. Der Fokus liegt hier eher auf Essays, in denen sich Lebenserfahrung mit Neugier mischt und es auch mal um grundsätzliche Fragen geht.