„Weh Dir, daß Du ein Enkel bist!“
Über die Last der Tradition und den Fluch der Kanonisierung in der zeitgenössischen Kunstproduktion
„Weh Dir, daß Du ein Enkel bist!“ – Goethes bittere Klage über die Bürde der Nachgeborenen trifft den Kern eines kulturhistorischen Phänomens, das die Kunstproduktion seit der Moderne entscheidend prägt. Was einst als lebendige, in den Rhythmus des gesellschaftlichen Lebens eingebettete kulturelle Praxis existierte, ist heute zu einem monumentalen Erbe erstarrt, das über den zeitgenössischen Künstlern wie ein Damoklesschwert schwebt. Die Großen Dionysien Athens, die sakralen Kompositionen Bachs, die saisonalen Opernzyklen des 19. Jahrhunderts — sie alle entstanden mit einem natürlichen „Verfallsdatum“, verwoben in die rituellen und sozialen Strukturen ihrer Zeit. Heute hausen sie als kanonisierte Meisterwerke in den Tempeln der Hochkultur und werfen einen langen Schatten auf jede neue künstlerische Äußerung.
Und das betrifft längst nicht mehr nur die Werke selbst, sondern oft auch die konservierten Interpretationen. Lohnt es sich wirklich, Cleopatra neu zu verfilmen? Wie soll man den Hamlet nach Laurence Olivier spielen, wie die Violetta nach Maria Callas singen?
Das Zeitalter der rituellen Kunst
Um die Tragweite dieser ungeheuren Transformation zu erfassen, möchte ich zunächst einen Blick auf die ursprüngliche Verfaßtheit der Kunst werfen. In der Antike war künstlerisches Schaffen untrennbar mit religiösen, politischen und sozialen Funktionen verbunden. Die attischen Tragödiendichter Aischylos, Sophokles und Euripides schrieben ihre Werke nicht für die Ewigkeit, sondern für konkrete Aufführungen während der Dionysien, jener religiösen Festlichkeiten, die zugleich politische Versammlungen und kulturelle Höhepunkte des Jahres bildeten. Nach den Aufführungen verschwanden die Texte oft wieder, lebten allenfalls in der mündlichen Überlieferung fort oder wurden für spätere Gelegenheiten adaptiert.
Ähnlich verhielt es sich mit der Musik des Barock. Johann Sebastian Bachs Kantaten entstanden als Gebrauchsmusik für den protestantischen Gottesdienst, seine Passionen für die Karwoche. Diese Werke waren fest in den liturgischen Kalender eingebunden, erfüllten eine konkrete spirituelle Funktion und verschwanden nach ihrer Aufführung wieder im Archiv der Thomaskirche. Daß wir heute Bachs Matthäus-Passion als autonomes Kunstwerk in Konzertsälen hören, wäre dem Komponisten vermutlich als Sakrileg erschienen.
Noch im 19. Jahrhundert folgte die Opernproduktion saisonalen Zyklen. Rossini, Donizetti und der junge Verdi schrieben ihre Werke für bestimmte Häuser, bestimmte Sänger und bestimmte gesellschaftliche Anlässe. Ein Melodramma war ein Ereignis, das kommen und gehen sollte wie die Mode oder das Wetter. Verdi sprach mit Blick aus den Zwang, permanent Neues schaffen zu müssen, von seinen „Galeerenjahren“. Die Vorstellung, daß diese Werke eines Tages in einem unveränderlichen Repertoire erstarren würden, lag außerhalb der Vorstellungskraft ihrer Schöpfer. Erst Richard Wagner strebte dies für seine zehn von ihm selbst kanonisierten Hauptwerke in Bayreuth an.
Diese Einbindung in funktionale Zusammenhänge war keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal der europäischen Kultur. In der indischen Tradition entstanden Ragas als spirituelle Übungen, die zu bestimmten Tageszeiten und Jahreszeiten aufgeführt wurden — der Raga Bhairav am frühen Morgen, Malkauns in den tiefen Nachtstunden. Jede Aufführung war eine neue Meditation über die ewigen kosmischen Rhythmen, keine Reproduktion eines fixierten Werks. Das japanische Nō-Theater verband jahrhundertelang Tanz, Gesang und Schauspiel zu rituellen Handlungen, die dem Shinto-Glauben entsprangen und in Tempeln oder an Schreinen stattfanden. Auch hier war jede Aufführung ein einmaliger zeremonieller Akt, der seine Legitimation aus der spirituellen Praxis, nicht aus ästhetischen Kategorien bezog.
Ebenso blieben in Afrika musikalische und tänzerische Traditionen über Jahrhunderte an ihre ursprünglichen sozialen Funktionen gebunden. Die komplexen Polyrhythmen der westafrikanischen Trommelmusik dienten der Kommunikation zwischen Dörfern, der Beschwörung von Geistern oder der Begleitung von Initiationsriten. Die Vorstellung, diese Musik könnte als „Weltmusik“ in europäischen Konzertsälen ästhetisch konsumiert werden, hätte die Menschen irritiert, zu deren Lebensalltag sie gehörte.
Die Geburt des Kanons
Der Wandel von der funktionalen zur autonomen Kunst vollzog sich in einem komplexen historischen Prozeß, der seine Wurzeln in der europäischen Aufklärung hat. Mit der Säkularisierung und der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft verlor die Kunst ihre traditionellen Auftraggeber — Hof und Kirche — und büßte überlieferte Funktionen ein. Gleichzeitig entwickelte sich mit der philosophischen Ästhetik ein neues Verständnis von Kunst als autonomer Sphäre, die ihre Rechtfertigung nicht mehr aus externen Zwecken, sondern aus sich selbst bezog.
Johann Joachim Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums (1764) markiert einen Wendepunkt. Erstmals wurden antike Kunstwerke nicht mehr als Zeugnisse vergangener Kulturen, sondern als zeitlose Modelle ästhetischer Vollendung betrachtet. Die Romantik radikalisierte diese Sichtweise, indem sie das Kunstwerk zum Offenbarungsträger absoluter Wahrheit erhob. Aus funktionalen Objekten wurden sozusagen Kultobjekte einer neuen, säkularen Religion, die eine existentielle, symbolische, gefühlsmäßige Erkenntnis der Wirklichkeit ermöglichen sollten.
Die Institutionalisierung der Kunst beschleunigte diesen Prozeß. Die Entstehung öffentlicher Museen, Konzertsäle und Staatsopern schuf neue Räume, in denen Kunst aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst und nach rein ästhetischen Kriterien präsentiert werden konnte. Der Louvre, vormals königlicher Palast und 1793 als öffentliches Museum zugänglich gemacht, wurde zum Prototyp einer Institution, die Kunstwerke nicht mehr als Gebrauchsgegenstände, sondern als Objekte der Kontemplation präsentierte.
Parallel dazu entwickelten sich die Geisteswissenschaften als akademische Disziplinen. Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und Literaturwissenschaft schufen die theoretischen Grundlagen für die Kanonbildung. Sie etablierten Hierarchien des Geschmacks, definierten Stilperioden und konstruierten eine teleologische Entwicklungsgeschichte der Kunst, die bestimmte Werke als Höhepunkte menschlicher Kreativität auszeichnete.
Diese zunächst auf Europa beschränkte Kanonisierung hatte jedoch globale Folgen. Die koloniale Expansion des 19. Jahrhunderts führte dazu, daß ästhetische Kategorien der Europäer auf außereuropäische Kulturen übertragen wurden. Afrikanische Masken wurden zu „primitiver Kunst“, chinesische Tuschemalerei zur „fernöstlichen Ästhetik“, indianische Textilien zu „Volkskunst“. Diese Kategorisierungen rissen die Objekte aus ihren ursprünglichen rituellen und sozialen Zusammenhängen heraus und ordneten sie in ein hierarchisches System ein, das westliche Kunstvorstellungen zur universalen Norm erhob.
Die Mechanismen der Musealisierung
Die Musealisierung der Kunst folgte spezifischen Mustern, die bis heute nachwirken. Zunächst erfolgte die Konservierung durch Dokumentation und Archivierung. Werke, die ursprünglich ephemer waren, wurden durch Notation, Reproduktion und wissenschaftliche Erschließung für die Nachwelt gesichert. Diese Fixierung hatte paradoxe Folgen: Sie bewahrte die Werke vor dem Vergessen, beraubte sie aber gleichzeitig ihrer ursprünglichen Vitalität und Wandlungsfähigkeit.

Parallel dazu entwickelte sich ein System kultureller Wertschöpfung, das bestimmte Epochen und Stile als „klassisch“ auszeichnete. Die Wiener Klassik wurde zum Maßstab für die Symphonie, die italienische Renaissance zum Inbegriff der Malerei, die griechische Tragödie zur Norm des Dramas. Diese Kanonisierung war nicht wertfrei, sondern spiegelte die Macht- und Bildungsstrukturen der Zeit wider, in der sie jeweils vorgenommen wurde.
Die technische Reproduzierbarkeit verstärkte diese Tendenzen. Walter Benjamins Analyse des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit erfaßt nur einen Aspekt dieser Entwicklung. Wichtiger noch war, daß die Reproduktionstechnologien — von Kupferstichen über Notendrucke bis zu Schallplatten — es ermöglichten, Kunstwerke von ihrem ursprünglichen Aufführungskontext zu lösen und universell verfügbar zu machen. Bachs Weihnachts-Oratorium wurde vom liturgischen Ereignis zur Schallplatte, die man jederzeit im Wohnzimmer abspielen konnte.
Diese Entwicklung war untrennbar mit ökonomischen Interessen verbunden. Der entstehende Kulturmarkt benötigte stabile Werte, reproduzierbare Produkte und verläßliche Absatzmöglichkeiten. Ein kanonisiertes Meisterwerk war eine sichere Investition — für Verleger, Galeristen, Theaterdirektoren und nicht zuletzt für die aufstrebende Schicht gebildeter Bürger, die kulturelles Kapital akkumulieren wollte. Die Entstehung des modernen Kunstmarkts im 18. und 19. Jahrhundert war daher sowohl Ursache als auch Folge der Kanonisierung. Auktionshäuser wie Sotheby’s (gegründet 1744) und Christie’s (1766) etablierten Preismechanismen, die bestimmte Künstler und Epochen bevorzugten und damit deren kanonischen Status zementierten.
Der Fluch der Nachgeborenen
Diese Entwicklung hatte tiefgreifende Folgen für die nachfolgende Kunstproduktion. Zum ersten Mal in der Geschichte mußten sich Künstler nicht nur mit ihren Zeitgenossen, sondern mit der gesamten dokumentierten Kunstgeschichte messen. Der Komponist des 20. Jahrhunderts stand vor der unmöglichen Aufgabe, mit Bach, Mozart und Beethoven zu konkurrieren – Figuren, die längst zu übermenschlichen Genies mythologisiert worden waren.
Harold Bloom hat dieses Phänomen als „Einflußangst“ (The Anxiety of Influence: A Theory of Poetry, 1973, dt. 1995) beschrieben, als den Kampf jeder Generation von Künstlern gegen die erdrückende Präsenz ihrer Vorgänger. Doch Blooms psychoanalytische Metapher erfaßt meiner Ansicht nach nur einen Ausschnitt des Problems. Es geht nicht nur um individuelle Neurosen, sondern um eine strukturelle Veränderung der kulturellen Produktion. Die Kanonisierung hat die Bedingungen künstlerischen Schaffens fundamental verändert.
Die Institutionen der Hochkultur verstärkten diese Tendenz. Opernhäuser, Konzerthäuser und Museen bevorzugten das bewährte Repertoire, weil es wirtschaftlich sicherer und kulturell prestigeträchtiger war. Ein Konzertabend mit Beethovens Fünfter Symphonie garantierte volle Säle und positive Kritiken; eine Uraufführung barg finanzielle und künstlerische Risiken. Neue Werke wurden zu Alibis für eine kulturelle Praxis, die sich im Wesentlichen der Konservierung und Reproduktion des Überlieferten widmete. Der heutige Komponist wurde zum Museumspädagogen seiner eigenen Zunft.
Gleichzeitig entstand ein neuer Typus des Künstlers: der Avantgardist, der seine Legitimation gerade aus der radikalen Negation der Tradition bezog. Doch auch diese Negation blieb auf die Tradition bezogen. Die Atonalität Schönbergs definiert sich durch die Abwesenheit der Tonalität, Duchamps Readymades durch die Negation traditioneller Kunstbegriffe. Die Avantgarde war die andere Seite der Medaille: Sie bestätigte durch ihre Rebellion die Macht des Kanons.
Diese Dialektik von Tradition und Aufbruch prägte nicht nur die westliche Moderne, sondern auch die Kunstentwicklung in anderen Kulturkreisen. So führte etwa in Japan die erzwungene Öffnung des Landes 1853 zu einer dramatischen Konfrontation zwischen traditionellen und westlichen Kunstformen. Künstler wie Kuroda Seiki versuchten europäische Maltechniken mit japanischen Motiven zu verbinden, während andere wie die Nihonga-Bewegung bewußt an traditionellen Techniken festhielten. In beiden Fällen definierte sich die neue Kunst über die Auseinandersetzung mit dem westlichen Kanon, der zum Maßstab für „Modernität“ geworden war.
Die Postmoderne und das Ende der Geschichte
Die Postmoderne schien zunächst einen Ausweg aus diesem Dilemma zu bieten. Künstler wie John Cage, Andy Warhol oder Karlheinz Stockhausen experimentierten mit neuen Medien, neuen Formen der Aufführung und neuen Begriffen von Autorschaft. Sie durchbrachen die Grenzen zwischen „hoher“ und „populärer“ Kultur, zwischen Original und Kopie, zwischen Kunst und Leben.
Doch auch die postmoderne Strategie der Bricolage, der ironischen Aneignung und Rekombination historischer Stile, blieb letztlich auf den Kanon angewiesen. Postmoderne Kunst lebte von der Kenntnis der Kunstgeschichte, die sie spielerisch dekonstruierte. Sie setzte ein gebildetes Publikum voraus, das die Referenzen erkannte und die intertextuellen Spiele würdigen konnte.
Zudem führte die postmoderne Nivellierung der Hierarchien zu einer neuen Form der Orientierungslosigkeit. Wenn alles Kunst sein konnte und alle Stile gleichberechtigt waren, verlor die künstlerische Produktion ihre Richtung. Die „Krise der Repräsentation“ wurde zur Dauerkrise einer Kultur, die ihre eigenen Grundlagen relativiert hatte.
Die ökonomischen Folgen dieser Entwicklung waren beträchtlich. Der Kunstmarkt reagierte auf die postmoderne Vielfalt mit einer noch stärkeren Konzentration auf bewährte Namen und Stile. Während in den Galerien experimentelle Kunst gezeigt wurde, investierten Sammler und Museen weiterhin primär in kanonisierte Positionen. Die Preise für Werke der klassischen Moderne explodierten — Van Goghs Sonnenblumen wurden 1987 für 40 Millionen Dollar verkauft, ein damals unvorstellbarer Betrag, der die Kluft zwischen etablierter und experimenteller Kunst weiter vertiefte.
Die Digitalisierung und ihre Folgen
Die digitale Revolution hat diese Entwicklungen noch einmal dramatisch verschärft. Einerseits demokratisierte sie den Zugang zur Kunstproduktion: Jeder kann heute mit einem Laptop Musik komponieren, Filme schneiden oder Texte publizieren. Andererseits führte sie zu einer beispiellosen Beschleunigung der kulturellen Zyklen. Was gestern noch als innovativ galt, ist heute schon veraltet.
Gleichzeitig machte die Digitalisierung das gesamte kulturelle Erbe simultan verfügbar. Spotify, YouTube und Google Arts & Culture haben die Kunstgeschichte in einen riesigen, durchsuchbaren Datensatz verwandelt. Der moderne Künstler hat theoretisch Zugang zu allen Werken aller Zeiten — eine Situation, die sowohl befreiend als auch lähmend wirken kann.
Die Algorithmen der Plattformen verstärken dabei die Tendenz zur Kanonisierung. Was oft gespielt wird, wird noch öfter gespielt. Was selten gehört wird, verschwindet in den Tiefen des Netzes. Die digitale Demokratisierung führt paradoxerweise zu neuen Formen der Monopolisierung kultureller Aufmerksamkeit.
Diese neue Form der Kanonisierung unterscheidet sich fundamental von früheren Epochen. Während traditionelle Kanones durch Bildungseliten und kulturelle Institutionen geprägt wurden, entstehen digitale Kanones durch Algorithmen, die auf Nutzerverhalten basieren. Spotifys Discover Weekly oder YouTubes Empfehlungsalgorithmus schaffen neue Hierarchien kultureller Relevanz, die nicht mehr auf ästhetischen Urteilen, sondern auf Datenanalyse beruhen. Ein Kunstwerk wird nicht mehr deshalb kanonisch, weil Kritiker es für bedeutend halten, sondern weil es oft geklickt, geliked oder geteilt wird.
Die ökonomischen Auswirkungen sind erheblich. Streaming-Plattformen zahlen Künstlern Bruchteile der Erlöse, die früher durch Plattenverkäufe erzielt wurden. Gleichzeitig konzentrieren sich die Einnahmen auf wenige Superstars: Die erfolgreichsten ein Prozent der Künstler auf Spotify erhalten 77 Prozent aller Streaming-Erlöse. Mittlerweile ist ein neuer Typus des „Algorithmus-Künstlers“ entstanden, der seine Musik gezielt für die Empfehlungssysteme optimiert — kurze, eingängige Tracks, die in den ersten Sekunden den Hörer fesseln müssen, um nicht weggeklickt zu werden.
Neue Wege, alternative Konzepte
Dennoch sind in den letzten Jahrzehnten Ansätze entstanden, die neue Wege jenseits der etablierten Museumslogik erkunden. Partizipative Kunstformen wie Community Art oder Social Practice Art knüpfen wieder an die ursprüngliche Funktion der Kunst als soziale Praxis an. Sie schaffen temporäre Gemeinschaften, ephemere Ereignisse und vergängliche Erfahrungen, die bewußt der Kanonisierung widerstehen.
Site-specific Art und Environmental Art entwickeln ortsbezogene Arbeiten, die nicht ohne Weiteres in Museen transferiert werden können. Künstler wie Christo und Jeanne-Claude schufen monumentale Installationen, die nach kurzer Zeit wieder verschwanden und nur in der Erinnerung und in fotografischen Dokumenten fortlebten. Ihre Surrounded Islands in der Biscayne Bay von Miami existierten nur zwei Wochen lang, prägten aber nachhaltig das Bewußtsein für die Beziehung zwischen Kunst und Natur. Der „verpackte Reichstag“ des Jahres 1995 wird allerdings aktuell (Juni 2025) durch eine einwöchige Lichtinstallation „wiedererweckt“ - eine, freilich ihrerseits flüchtige, Reproduktion.
Performance Art und Happening greifen die Tradition der rituellen Kunst auf, indem sie einmalige, nicht reproduzierbare Ereignisse schaffen. Marina Abramović entwickelt Arbeiten, die nur im Moment ihrer Aufführung existieren und sich der Musealisierung entziehen – auch wenn paradoxerweise gerade diese Unwiederholbarkeit ihren Marktwert steigert. Tehching Hsieh führte einjährige Performances durch, die jede kommerzielle Vermarktung unmöglich machten. Ein sechsminütiger Dokumentationsfilm wurde später in Dresden gezeigt. Tino Sehgal verkauft „konstruierte Situationen“, die nur mündlich übertragen werden dürfen und keine materiellen Spuren hinterlassen.
Auch in der Musik entstehen neue Formen der Zeitgenossenschaft. Improvisationsmusik, Sound Art und elektronische Musik schaffen flüchtige Klangwelten, die nicht ohne Weiteres in das traditionelle Konzertrepertoire integriert werden können. Festivals wie die Donaueschinger Musiktage oder die Ars Electronica schaffen temporäre Räume für experimentelle Kunst jenseits der etablierten Institutionen.
Besonders interessant sind Entwicklungen, die traditionelle und experimentelle Ansätze verbinden. Der malische Musiker Ali Farka Touré verband westafrikanische Gitarrentechniken mit amerikanischem Blues und schuf dabei etwas völlig Neues, das weder dem einen noch dem anderen Kanon zuzuordnen war. Die brasilianische Tropicália-Bewegung um Caetano Veloso und Gilberto Gil kombinierte lokale Musiktraditionen mit internationalen Pop-Elementen und politischem Protest. Diese Künstler zeigten, daß es möglich ist, aus verschiedenen Traditionen zu schöpfen, ohne von ihnen erdrückt zu werden.
Die Dialektik von Tradition und Innovation
Doch diese Strategien des Widerstands bleiben ambivalent. Auch sie laufen Gefahr, selbst kanonisiert zu werden. Die Konzeptkunst der 1960er Jahre ist längst Gegenstand kunsthistorischer Forschung geworden. Die Happenings von Allan Kaprow werden heute in Kunstbüchern dokumentiert und in Ausstellungen rekonstruiert.
Die Frage ist daher nicht, ob die Kunst der Kanonisierung entkommen, sondern wie sie produktiv mit dieser Spannung umgehen kann. Die Tradition ist nicht nur Last, sondern auch Ressource. Sie bietet ein Reservoir an Formen, Techniken und Bedeutungen, aus dem geschöpft werden kann. Die Herausforderung besteht darin, diese Ressourcen zu nutzen, ohne von ihnen erdrückt zu werden.
Einige Künstler haben dafür exemplarische Lösungen entwickelt. Der Komponist Wolfgang Rihm schreibt bewußt in traditionellen Gattungen wie der Symphonie oder dem Streichquartett, verleiht ihnen aber durch seine persönliche Sprache neue Aktualität. Seine Musik klingt unverwechselbar modern, obwohl sie sich traditioneller Formen bedient. Der Maler Gerhard Richter arbeitet sowohl abstrakt als auch figurativ und durchbricht dadurch die starren Kategorien der Kunstgeschichte. Seine Fotobilder und Abstrakten Bilder entstehen parallel und kommentieren sich gegenseitig. Der Regisseur Christoph Marthaler inszeniert klassische Opern, dekonstruiert sie aber gleichzeitig durch seine spezifische Theatersprache, die Alltag und Ritual, Komik und Tragik miteinander verwebt.
Diese Künstler haben verstanden, daß es nicht darum geht, die Vergangenheit zu ignorieren oder zu bekämpfen, sondern sie als verfügbares und veränderbares Material zu begreifen. Sie praktizieren eine Form der Zeitgenossenschaft, die Vergangenheit und Gegenwart in einen produktiven Dialog bringt. Ihre Werke sind weder nostalgische Rückgriffe noch revolutionäre Brüche, sondern Transformationen, die das Alte im Neuen aufheben.
Neue Zeitgenossenschaft
Diese Beispiele deuten auf eine mögliche neue Form der Zeitgenossenschaft hin, die weder die Tradition negiert noch von ihr überwältigt wird. Sie basiert auf der Erkenntnis, daß Kunstwerke nicht als abgeschlossene Objekte existieren, sondern menschengemacht sind und in jeder neuen Aufführung, Interpretation oder Aneignung neu entstehen.
Diese prozessuale Sichtweise entspricht paradoxerweise der ursprünglichen Verfaßtheit der Kunst vor ihrer Musealisierung. Die griechischen Tragödien existierten nicht als fixe Texte, sondern als lebendige Aufführungspraxis. Jede Inszenierung war eine neue Interpretation, jede Interpretation eine neue Schöpfung. Bachs Kantaten lebten in der liturgischen Praxis, nicht als Konzertwerke.
Was bedeutet diese „Lebendigkeit“ konkret? Sie äußert sich in der Fähigkeit eines Kunstwerks, immer wieder neue Bedeutungen zu generieren, verschiedene Interpretationen zu ermöglichen und auf veränderte historische Umstände zu reagieren. Ein solcherart lebendiges Kunstwerk ist nicht in einer einzigen Bedeutung gefangen, sondern bleibt offen für neue Deutungen. Shakespeares Hamlet kann als Renaissancedrama, als existentialistisches Lehrstück oder als postkoloniale Kritik inszeniert werden — jede Interpretation aktiviert andere Aspekte des Textes.
Echte Zeitgenossenschaft würde bedeuten, diese interpretative Offenheit nicht nur für kanonisierte Werke der Vergangenheit zu praktizieren, sondern auch neue Werke so zu schaffen, daß sie ähnliche Deutungsräume eröffnen. Das erfordert einen Wandel sowohl in der künstlerischen Produktion als auch in der kulturellen Rezeption.
Die Aufgabe der heutigen Kunst könnte darin bestehen, diese ursprüngliche Vitalität wiederzugewinnen, ohne die Errungenschaften der ästhetischen Moderne preiszugeben. Das bedeutet nicht, die Kunstgeschichte zu ignorieren, sondern sie als zur Verfügung stehende Tradition zu begreifen, die ständig neu interpretiert und aktualisiert werden muß.
Die Befreiung der Enkel
Goethes Klage über die Last der Nachgeborenen muß daher nicht das letzte Wort bleiben. Die Enkel sind nicht nur Erben, sondern auch Akteure. Sie können die Tradition fortsetzen, indem sie sie verwandeln. Sie können die Vergangenheit ehren, indem sie sie für die Gegenwart fruchtbar machen — und so das Erbe mehren, anstatt bloß von ihm zu zehren.
Die Kanonisierung der Kunst war ein notwendiger historischer Prozeß, der das kulturelle Erbe für die Nachwelt bewahrt hat. Aber sie darf nicht zum Gefängnis werden, das neue künstlerische Äußerungen verhindert. Die Museen, Konzerthäuser und Opernhäuser können zu Laboratorien werden, in denen alte und neue Kunst aufeinandertreffen und sich gegenseitig befruchten. Auf diesem Weg das Publikum mitzunehmen, stellt freilich eine Herausforderung dar.
Die moderne Kunst steht vor der Herausforderung, neue Formen der Zeitgenossenschaft zu entwickeln, die weder die Tradition verleugnen noch von ihr paralysiert werden. Sie muß lernen, mit der Vergangenheit zu leben, ohne in ihr zu erstarren. Sie muß Wege finden, die interpretative Offenheit der ursprünglichen rituellen Kunst wiederzugewinnen, ohne deren Errungenschaften preiszugeben.
Das ist keine leichte Aufgabe. Aber sie ist lösbar. Die Kunst hat in ihrer Geschichte immer wieder bewiesen, daß sie sich wandeln und erneuern kann. Auch die Enkel können zu Ahnherren werden — wenn sie den Mut haben, die Tradition nicht nur zu erben, sondern sie auch zu verwandeln und zu befruchten. Dann wird aus Goethes Klage vielleicht ein Lobgesang: „Wohl Dir, daß Du ein Enkel bist!“
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