Ich sah keine Welt mehr, und doch besinn' ich mich, daß sie niemals so schön war.
Mit diesen Worten beschreibt Friedrich Schiller die Fixiertheit der verliebten Luise Miller, als Ferdinand von Walther ins Zentrum ihrer Wahrnehmung rückt und alles andere daraus verdrängt.
Einleitung
In der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts nehmen die Brüder Heinrich (1871–1950) und Thomas Mann (1875–1955) eine Sonderstellung ein — nicht nur als stilistische Erneuerer und gesellschaftliche Chronisten, sondern auch als exemplarische Vertreter einer spezifisch anthropozentrischen Weltanschauung. Die Idee zu diesem Essay kam mir auf der Jahrestagung der Goethegesellschaft Weimar, die ich im Juni 2025 besucht habe, auf der es unter anderem um die Bedeutung von Landschaft und Natur auch in Goethes literarischem Werk und seine Sammlung von Landkarten ging, und ich mich daraufhin gefragt habe, wie das eigentlich bei Heinrich und Thomas Mann ist.
Ich will der Frage nachgehen, warum die Brüder eine strikt anthropozentrische Perspektive gewählt haben und welche Ergebnisse diese gezeitigt hat, um sowohl ihre historische Berechtigung als auch ihre literarischen Innovationen zu würdigen.
Anthropozentrismus bezeichnet hier eine literarische Haltung, die den Menschen systematisch ins Zentrum der ästhetischen, erkenntnistheoretischen und ethischen Betrachtung rückt. Dabei lassen sich drei Dimensionen unterscheiden: der „methodische“ Anthropozentrismus (der Mensch als primärer Erkenntnisgegenstand), der „ästhetische“ Anthropozentrismus (nicht-menschliche Phänomene als Kunstmittel) und der „soziologische“ Anthropozentrismus (der Mensch als ausschließlich gesellschaftliches Wesen). Während Zeitgenossen der Brüder Mann wie Hermann Hesse (1877-1962) mystische Naturerfahrungen suchten oder der ältere Adalbert Stifter (1805-1868) bereits ökologische Sensibilität entwickelte, wählten die Brüder Mann bewußt eine andere Strategie: die konsequente Konzentration auf den Menschen als kultur- und geschichtsmächtiges Wesen.

Historische Rahmenbedingungen: Warum Anthropozentrismus?
Die anthropozentrische Perspektive der Brüder Mann entspringt nicht literarischer Beschränktheit, sondern stellt eine bewußte Antwort auf die Herausforderungen ihrer Epoche dar. Um 1900 hatte die Industrialisierung die Trennung von Kultur und Natur bereits tiefgreifend vollzogen. Gleichzeitig waren neue Wissenschaften entstanden: Ernst Haeckel (1834-1919) prägte 1866 in Generelle Morphologie der Organismen den Begriff „Ökologie“, Charles Darwin (1809-1882) revolutionierte mit seiner Schrift Über die Entstehung der Arten (1859) das Naturverständnis, die Soziologie etablierte sich mit Auguste Comtes (1798-1859) Werk Système de politique positive, ou Traité de sociologie, instituant la religion de l’humanité (1851-1854) als eigenständige Disziplin. All dies wurde vor dem Ersten Weltkrieg in Intellektuellenkreisen rezipiert und leidenschaftlich diskutiert.
In diesem Kontext war die Konzentration auf den Menschen als gesellschaftliches und kulturelles Wesen nicht rückständig, sondern zeitgemäß fortschrittlich. Angesichts von Industrialisierung, Erstem Weltkrieg und — schließlich — aufkommendem Faschismus erschienen politische und kulturelle Fragen als die drängendsten Themen. Die Brüder Mann entwickelten eine gleichsam strategische Anthropozentrik: eine humanistische Verteidigung der Vernunft gegen die Zumutungen einer entfesselten Moderne.
Thomas Mann: Ästhetischer Anthropozentrismus
Thomas Manns Anthropozentrismus ist primär ästhetischer Natur: Die nicht-menschliche Welt wird systematisch zu einem Kunstmittel der Menschendarstellung transformiert. Diese Technik zeigt sich in verschiedenen Dimensionen:
Landschaft als psychologische Metapher
Im Zauberberg (1924) wird die Alpenlandschaft zur Chiffre für Hans Castorps geistige Entwicklung. Die „dünne Luft“ des Hochgebirges entspricht nicht einer meteorologischen Realität, sondern der „Entrücktheit“ des Protagonisten von bürgerlicher Normalität. Als Hans Castorp im berühmten Schnee-Kapitel durch die winterliche Bergwelt wandert, reflektiert der Erzähler: „Wie war das Wetter? Wie immer hier oben: schlecht-schön, unbeständig [...], ein Wetter für Menschen, die Zeit haben.“ Die Witterung wird vollständig in den Dienst menschlicher Zeitwahrnehmung gestellt.
Noch deutlicher zeigt sich dies in Der Tod in Venedig (1912). Die Lagunenstadt wird nicht als historisch gewachsenes Ökosystem dargestellt, sondern als „Traumstadt der Schönheit“ und zugleich als Ort der Dekadenz. Aschenbachs Wahrnehmung der Stadt oszilliert zwischen ästhetischer Verklärung und hygienischer Bedenkenlosigkeit: „Diese verdächtige Stadt, [...] wo die Kunst so üppig gedieh und wo Musiker zu bezaubernden Akkorden hingerissen wurden.“ Das reale Venedig — seine Gezeiten, seine marine Ökologie, seine materielle Bedingtheit — verschwindet hinter der symbolischen Überdeterminierung.
Tiere als Charakterspiegel
In Herr und Hund (1919) wird der Jagdhund Bauschan zum Spiegel des alternden Künstlers stilisiert. Thomas Mann schreibt: „Bauschan ist ein Jäger, weiter nichts [...] Er lebt in der Freude seines Herzens.“ Der Hund wird nicht als eigenständiges Lebewesen mit spezifischen Bedürfnissen und Verhaltensweisen dargestellt, sondern als Projektionsfläche menschlicher Sehnsüchte nach „natürlicher“ Unmittelbarkeit. Die reale Hundepsychologie — territoriales Verhalten, Rudelsozialisation, artspezifische Kommunikation — bleibt ausgeblendet.
Heinrich Mann: Soziologischer Anthropozentrismus
Heinrich Manns Anthropozentrismus folgt einer anderen Logik: Er ist soziologisch motiviert und richtet sich auf den Menschen als ausschließlich politisches Wesen. Natur und Landschaft erscheinen nur als gesellschaftliche Faktoren.
Landschaft als Gesellschaftssymbol
In Der Untertan (1918) wird die norddeutsche Kleinstadt Netzig nicht geografisch oder ökologisch beschrieben, sondern ausschließlich als sozialer Mikrokosmos. Diederich Heßlings Verhältnis zur Umwelt ist vollständig durch Machtverhältnisse bestimmt: „Er liebte die Luft, in der er herrschte.“ Luft meint hier nicht das meteorologische Phänomen, sondern die sozialen Herrschaftsverhältnisse.
In den italienischen Romanen (Die Göttinnen, 1903) dient die südliche Landschaft als Kontrastfolie zur deutschen Enge. Aber auch hier bleibt sie symbolisch funktionalisiert: Italien steht für Sinnlichkeit und Leidenschaft — nicht als komplexer kultureller und ökologischer Raum, sondern als plakatives Gegenbild zum wilhelminischen Deutschland.
Verzicht auf Naturschilderung als poetisches Programm
Heinrich Manns Gesellschaftsromane kommen systematisch ohne ausführliche Naturbeschreibungen aus. In Professor Unrat (1905) wird die Ostseeküste nur erwähnt, soweit sie die sozialen Verhältnisse der Kleinstadt beeinflußt. Diese Naturabsenz ist programmatisch: Sie entspricht einer Gesellschaftskritik, die den Menschen als ausschließlich soziales Wesen begreift.
Vergleichende Perspektiven: Alternative Ansätze der Epoche
Um das Besondere der von den Brüdern vertretenen anthropozentrischen Perspektive zu verdeutlichen, lohnt ein Blick auf das Schreiben von Zeitgenossen:
Andere Vorgehensweise deutscher Autoren
Adalbert Stifter (1805-1868) hatte bereits im 19. Jahrhundert in Der Nachsommer (1857) eine Form des „ökologischen Realismus“ avant la lettre entwickelt, in dem Naturprozesse als eigenständige ästhetische und ethische Erfahrungsräume erschienen. Die Figur des Heinrich — er beobachtet, zeichnet, klassifiziert Tiere und Pflanzen — steht erkennbar in Goethescher Tradition. Hermann Hesse (1877-1962) suchte in Siddhartha (1922) die Einheit von Mensch und Natur durch eine mystische Naturreligiosität: „Er lernte von diesem Wasser, daß schön ist, immer zu fließen, immer sich zu bewegen.“ Ricarda Huch (1864–1947) gestaltete in historischen Romanen und Essays Naturphänomene als ethisch relevante Erfahrungsräume und
-gelegenheiten.
Internationale Vergleiche
Während Émile Zola (1840-1902) in seinen Romanen die Natur als deterministische Kraft gestaltete (Germinal, 1885), entwickelte Thomas Hardy (1840-1928) eine Literatur, in der Landschaft als quasi-personaler Akteur auftritt (The Return of the Native, 1878). D.H. Lawrence (1885-1930) ging noch weiter und setzt in Lady Chatterley’s Lover (1928) eine Poetik der "vital sympathy" zwischen Mensch und Natur ein. Virginia Woolf (1882–1941) schuf in The Waves (1931) eine erzählerische Form, in der Mensch und Umwelt in einem dynamischen, nichthierarchischen Verhältnis erscheinen.
Kritische Würdigung: Historische Gerechtigkeit und aktuelle Relevanz
Die produktive Kraft der Begrenzung
Die konsequent verfolgte Anthropozentrik ermöglichte den Brüdern Mann bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen eine Präzision in der Gesellschaftsanalyse und der psychologischen Charakterisierung, die in der deutschen Literatur selten erreicht wurde. Thomas Manns Ironie funktioniert gerade durch die systematische Reduktion komplexer Phänomene auf menschliche Perspektiven. Heinrich Manns Gesellschaftskritik gewinnt ihre Schärfe durch die Konzentration auf politische Machtverhältnisse.
Historische Notwendigkeit
Angesichts der politischen Krisen der ersten Jahrhunderthälfte war die anthropozentrische Perspektive nicht nur legitim, sondern notwendig. In Zeiten, in denen die Grundlagen der europäischen Zivilisation bedroht waren, erschien Naturmystik wenig hilfreich und mußte Literatur in erster Linie den Menschen als kulturelles Wesen verteidigen, bevor sie ökologische Sensibilität entwickeln konnte.
Grenzen und Blindstellen
Aus heutiger ökokritischer Sicht, wie sie von Timothy Morton (The Ecological Thought, 2010) oder Donna Haraway (Die Neuerfindung der Natur, 1995) entwickelt wurde, zeigen sich dennoch systematische Blindstellen: Die Ausblendung ökologischer Zusammenhänge, die Reduktion der Natur auf symbolische Funktionen und die Ignoranz gegenüber nicht-menschlichen Lebenswelten wirken heute begrenzt. Spätestens die Klimakrise hat deutlich gemacht, daß Kultur und Natur untrennbar verflochten sind.
Freilich wäre es ahistorisch, heutige Maßstäbe ohne Modifikation auf ältere Literatur anzulegen.
Literarische Innovationen: Was bleibt aktuell?
Ironie als Erkenntnismittel
Thomas Manns ironische Erzähltechnik, die auch das anthropozentrische Weltbild selbst ironisiert, bleibt literarisch innovativ. Die Ironie schafft eine Distanz, die sowohl Kritik als auch Verstehen ermöglicht.
Gesellschaftsanalyse als literarische Form
Heinrich Manns Verbindung von Gesellschaftskritik und literarischer Form — die strukturelle Analogie zwischen sozialen und ästhetischen Ordnungen — beeinflußte die deutsche Literatur nachhaltig.
Psychologischer Realismus
Die Verbindung von Gesellschaftsdarstellung und psychologischer Vertiefung, wie sie beide Autoren entwickelten, bleibt ein Modell für zeitgenössische Literatur.
Fazit: Anthropozentrismus als historische Etappe
Heinrich Mann und Thomas Mann markieren eine entscheidende Etappe in der Entwicklung der modernen Literatur: den Höhepunkt und zugleich die historische Grenze einer konsequent anthropozentrischen Weltsicht. Ihre Werke zeugen von der intellektuellen Kraft eines Schreibens, das den Menschen ins Zentrum rückt und von dort aus Geschichte, Gesellschaft und Kultur durchleuchtet.
Diese Perspektive war historisch nicht nur berechtigt, sondern notwendig: In einer Zeit gewaltiger Umbrüche mußte Literatur zunächst die kulturellen Errungenschaften der Menschheit verteidigen. Die systematische Konzentration auf den Menschen ermöglichte eine Präzision der Gesellschaftsanalyse und psychologischen Durchdringung, die literarisch wegweisend blieb.
Gleichzeitig markiert die anthropozentrische Beschränkung eine historische Zäsur. In einer Zeit ökologischer Krisen und planetarer Abhängigkeiten können zeitgenössische Autoren nicht mehr an der systematischen Ausblendung der mehr-als-menschlichen Welt festhalten. Die Literatur der Gegenwart entwickelt neue Formen — wie etwa in den Werken von Ursula K. Le Guin, Kim Stanley Robinson oder Jenny Erpenbeck —, die den Menschen nicht aus dem Blick verlieren, aber auch die Welt nicht auf ihn reduzieren.
Die Bedeutung der Brüder Mann liegt trotz ihrer historischen Grenzen im souveränen Umgang mit den Möglichkeiten und Notwendigkeiten ihrer Epoche. Sie entwickelten eine literarische Anthropozentrik, die sowohl ästhetisch innovativ als auch gesellschaftlich relevant war. Diese historische Leistung behält ihre Bedeutung, auch wenn die Literatur inzwischen andere Wege geht.
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