Die an Studenten gerichtete Predigt von C.S. Lewis, gehalten auf der Kanzel von St. Mary the Virgin in Oxford im Herbst 1939 — kurz nach dem deutschen Überfall auf Polen—, läßt sich gerade heute mit Gewinn lesen1. Sie beginnt mit einer Frage, die auch gegenwärtig, bei allen geschichtlichen Unterschieden, ihre Dringlichkeit nicht verloren hat: Was nützt es, eine Aufgabe zu beginnen, von der wir kaum erwarten können, sie zu Ende zu führen? Angesichts des Kriegsausbruchs erschien den jungen Akademikern die Fortsetzung ihres Studiums wie ein anachronistisches Unterfangen. Lewis, der im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, gibt eine bemerkenswert klare Antwort: Ein Studium oder geistige Arbeit generell ist kein Beiwerk friedlicher Zeiten, sondern Ausdruck einer anthropologischen Konstante — und damit gerade in der Krise notwendig.
Die Parallelen zur Gegenwart liegen weniger im unmittelbaren historischen Kontext — niemand, der heute ein Buch schreibt, steht kurz vor der Einberufung, auch nicht Ole Nymoen — als in der Rhetorik der Verunsicherung. Schlagworte wie „Zeitenwende“ oder „Kriegstüchtigkeit“ markieren nicht nur reale geopolitische Verschiebungen, sondern wirken auch performativ: Sie erzeugen Erwartungsdruck, instrumentalisieren Unsicherheit, stellen vermeintlich zweitrangige Tätigkeiten – Kunst, Forschung, geistige Produktion – unter einen Rechtfertigungszwang. Die Frage lautet dann nicht: Was trägt Kultur zur Resilienz einer Gesellschaft bei? – sondern: Ist sie unter den gegebenen Bedingungen überhaupt legitim?
In dieser Konstellation erweist sich der Rückgriff auf Lewis überraschend ertragreich. Seine These lautet: Der Krieg, die Krise, schafft keine neue Lage, sondern legt die Grundbedingung menschlicher Existenz bloß. „Das Leben war nie normal“, schreibt er. Selbst die scheinbar stabilen Epochen — das lange 19. Jahrhundert etwa, von Stefan Zweig in seinem Buch Die Welt von gestern so großartig wie verklärend beschrieben — erscheinen bei näherem Hinsehen als von Krisen und Brüchen durchzogen. Wer auf „günstige Bedingungen“ wartet, um künstlerisch oder wissenschaftlich tätig zu sein, wird niemals beginnen.
Diese Einsicht zielt nicht auf Eskapismus. Vielmehr unterscheidet Lewis zwischen realer Weltwahrnehmung und lähmender Erregung. Als erste Gefahr für den Intellektuellen benennt er die Ablenkung durch permanente Aktualität — heute würde man sagen: durch Endlosschleifen aus Liveticker, Kommentarspalten und Krisen-Feeds. Es geht Lewis nicht darum, sich gegen politische Teilhabe zu immunisieren. Aber er insistiert auf der Notwendigkeit konzentrierter Arbeit — auch und gerade dann, wenn die Welt aus den Fugen scheint. Andernfalls, so sein Argument, tritt nicht Stille an die Stelle der geistigen Produktion, sondern Ersatz: schlechte Bücher statt guter, Irrationalität statt Analyse.
Der zweite Gegner der geistigen Arbeit ist laut Lewis die Frustration; damit meint er das Gefühl, es fehle an Zeit, Raum oder Perspektive. Auch hier liegt eine Verbindung zur Gegenwart nahe: Die strukturellen Bedingungen kultureller und akademischer Arbeit sind prekär. Kurzfristige Projektförderung, Existenzdruck, algorithmische Sichtbarkeitsökonomien und — nicht zuletzt — der Einbruch generativer Künstlicher Intelligenz in nahezu alle Felder symbolischer Produktion lassen sich kaum ignorieren. Die Idee eines lebenslangen, kontinuierlichen intellektuellen Wegs erscheint vielen als historisches Privileg vergangener Epochen. Lewis’ Entgegnung fällt nüchtern aus: Niemand habe je „genug Zeit“ gehabt. Auch lange Leben reichten nicht aus, um das Begonnene abzuschließen. Dennoch gelte es anzufangen — nicht trotz der widrigen Umstände, sondern in ihnen.
Gerade vor dem Hintergrund aktueller Diskurse um eine wiederzuerlangende „Kriegstüchtigkeit“ erhält Lewis’ Einspruch Gewicht. Er erinnert an eine andere, zivile Form von Resilienz: nicht Panik oder Programmatik, sondern Klarheit und Kontinuität. Gegen den funktionalistischen Zugriff auf Kultur behauptet er ihre Eigengesetzlichkeit; Kultur sei kein Luxus, sondern anthropologisches Grundbedürfnis. Der Mensch, so Lewis, „diskutiert mathematische Theoreme in belagerten Städten“ — nicht, weil es opportun ist, sondern weil es seine Natur ist.
Dabei gilt: Kulturfähigkeit setzt Freiheit voraus; jene Freiheit, ohne die keine offene Debatte, keine künstlerische Formensuche, kein Denken gegen den Strich möglich ist. Diese Freiheit ist doppelt bedroht: nach außen durch militärische Aggressionen, nach innen durch politische Instrumentalisierung, populistische Vereinfachungen und eine zunehmende Verzweckung von Bildung und Kultur. Wer Kultur verteidigen will, muß also auch die Bedingungen verteidigen, unter denen sie überhaupt gedeihen kann. Dazu gehört, neben materieller Absicherung, ein offener Raum für Zweifel, Kritik und Zweckfreiheit.
Am Ende steht kein Plädoyer für Weltflucht, sondern ein realistischer Begriff von Verantwortung. Wer kulturell arbeitet, übernimmt Verpflichtungen — nicht gegenüber einem imaginierten Publikum, sondern gegenüber der Möglichkeit, daß Kultur weiterexistiert. In einer Zeit, in der die Debatten um Sicherheit, Wehrhaftigkeit und Systemkonkurrenz zunehmend auch symbolische Felder besetzen, ist dies keine Randbemerkung. Es ist eine Erinnerung daran, daß es nicht reicht, kriegstüchtig zu sein. Eine Gesellschaft muß gleichzeitig kulturfähig bleiben, also bereit sein, auch die dafür notwendige Freiheit zu verteidigen und zu bewahren.
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C.S. Lewis, Learning in War Time, https://bradleyggreen.com/attachments/Lewis.Learning%20in%20War-Time.pdf